Die vielleicht etwas ernüchternde Nachricht vorab: Wirklich spektakulär ist die Arbeit bei der Hamburger Tafel nicht. Die Aufgabe der Ehrenamtlichen besteht darin, jeweils in Zweier-Teams in einem großen Sprinter von Abgabestelle zu Abgabestelle zu fahren und dort übrig gebliebene Lebensmittel einzusammeln, die kurz vor dem Ablaufdatum stehen oder angeblich nicht mehr gut genug sind, um der zahlenden Kundschaft angeboten zu werden. Ein Großteil dieser Abgabestellen sind Supermärkte, doch auch Bäckereien und Micro-Hubs von Lieferservices wie Flink zählen dazu. Bevor die Ware Kiste für Kiste in den Sprinter verladen wird, wird sie einer Qualitätskontrolle unterzogen, immer gemäß dem Motto „nimm nur das, was Du auch selbst essen würdest“. So stemmt ein Team an einem Tag bis zu eine Tonne Lebensmittel in den Verladeraum und lädt sie am Ende der Tour bei einer der Ausgabestellen wieder ab. Großes Ziel ist die Versorgung von Bedürftigen mit frischen, hochwertigen Lebensmitteln bei gleichzeitiger Bekämpfung der massiven Lebensmittelverschwendung.
Das eigentlich Spannende an der Arbeit sind jedoch die Menschen, die man dabei kennenlernt. Da gibt es Otto, der mit seiner Frisur Albert Einstein alle Ehre macht, sich jedoch vehement weigert preiszugeben, wie lange er schon bei der Tafel arbeitet, da man dadurch eventuell auf sein Alter schließen könnte. Oder Hannes, der 85-jährige ehemalige Gynäkologe, der seit zehn Jahren sagt, dass dieses Jahr das letzte Jahr sei, in dem er für die Tafel arbeite, nur um pünktlich im nächsten Jahr wieder an vorderster Front zu stehen. Besonders beeindruckt hat mich jedoch Frank. Mit ihm durfte ich die „St. Pauli-Runde“ fahren, die nahe der HSBA startet, dann mehrere Schleifen durch Ottensen dreht, bevor das Essen in Hamm abgegeben wird.
Frank hat jahrzehntelang als Unternehmer und Berater gearbeitet, hat so viel verdient, dass er sich mehrere Lofts kaufen und in verschiedenste Fonds investiert konnte, nur um trotzdem noch Jahr für Jahr sein eigenes Gehalt hochsetzen zu müssen, damit ihn das Finanzamt nicht der Steuerhinterziehung bezichtigt. Bis ihn nach 13 Jahren konstanten Arbeitens ohne auch nur einen einzigen Tag Urlaub das Burn-Out trifft. Die folgenden 1,5 Jahre verbringt er mit Klinikaufenthalten, psychiatrischen Behandlungen und damit, sein Leben um 180 Grad zu wenden. Er verkauft sämtliche Wertgegenstände und Immobilien, löst alle Fonds auf, kündigt einen Großteil seiner Versicherungen und spendet fast sein gesamtes Geld an gemeinnützige Organisationen. „Je mehr ich weggegeben habe, desto leichter wurde ich“, meint er. Dann lebt er drei Monate lang auf der Straße unter den etwa 1.800 Obdachlosen Hamburgs. Was andere als Horrorszenario empfinden würden, wird für ihn zu einer der besten Erfahrungen seines Lebens. Unter Obdachlosen zu leben, sagt er, sei, wie in einer Parallelgesellschaft zu leben: Jeder ist gleich.
Inzwischen wohnt Frank in einer kleinen Mietwohnung im Osten Hamburgs. Sobald ich ihn auf seine frühere Karriere oder finanziellen Errungenschaften anspreche, runzelt er seine Stirn und setzt zu einer ausführlichen Predigt über den wahren Sinn des Lebens an, ohne dabei jedoch überheblich zu wirken. Alle paar Sätze vergewissert er sich mit einem sanften „verstehst du?“, dass ich ihm noch folgen kann und nicht schon längst in meine eigene Traumwelt über den Sinn meines Lebens abgeschweift bin.
Dieses unscheinbare „verstehst du?“ wird mich noch Wochen nach meiner Fahrt mit Frank verfolgen. Es hat gleichzeitig etwas Zerrüttendes wie auch etwas Tröstliches. Denn: Nein, ich verstehe nicht. Vieles verstehe ich nicht. Wie wir in Deutschland Lebensmittel wegschmeißen können während in anderen Ländern Menschen verhungern verstehe ich nicht. Und wie wir an Prunkvillen an der Außenalster vorbeifahren können, um Menschen Essen zu bringen, die sich nicht einmal einen frischen Kopfsalat bei Aldi leisten können, verstehe ich nicht. Aber irgendwie gibt Frank mir die Zuversicht, dass ich es irgendwann verstehen werde und dass ich – wie er auch – durch genug Ausprobieren irgendwann meine Antworten auf meine Fragen finden werde.
Annabelle Dirks, Digistainables2019